Als der Vater seinen Kindern, die spät vom Nachmittagsunterricht nach Hause kamen, die Wohnungstür öffnete, begrüßte ihn seine Tochter Christine mit einem „Hallo“, während Christopher wortlos vorbeischlich, eilig die Schuhe auszog und in seinem Zimmer verschwand.
„Was ist denn ihm über die Leber gelaufen?“ fragte der Vater.
„Er hatte Zoff mit unserem Mathematiklehrer. Worum es genau ging, weiß auch nicht! Frag ihn bitte selber!“ antwortete Christine. „Ich hab schon Hunger!“
„Ich glaube, das Essen ist bald fertig! Ich war vorhin bei der Mama in der Küche, und da hat es schon sehr gut geduftet.“
„Fein, dann ziehe ich mich nur um und schau, ob ich Mama noch ein wenig helfen kann.“
Christine ging in die Küche, um ihre Mutter zu begrüßen. Dort traf sie Peter, ihren jüngeren Bruder, der gerade das Essbesteck zu den Tellern auf den Küchentisch legte.
„Hallo Mama! Hallo Peter! Ihr seid ja schon fleißig!“
„Grüß Dich, Christine. Das Essen ist gleich fertig. Hilf bitte Peter beim Tischdecken und schneide das Weißbrot auf“, bat die Mutter.
„Hi!“ erwiderte ihr Bruder, „ich bin schon fertig mit dem Decken.“
Wenig später rief die Mutter die Familie an den Tisch. Sie mussten auf Christopher warten, der immer wieder zu spät kam.
„Nett, dass du uns die Ehre gibst, mit uns zu speisen”, spottete Christine.
Christopher murmelte etwas vor sich hin, was wir hier lieber nicht zu Papier bringen. Die Mutter schüttelte wortlos den Kopf, während der Vater antwortete: „Du solltest einmal den Knigge studieren!“
„Was ist denn das?“ fragte Christine.
„Essen wir jetzt einmal”, erwiderte der Vater, „denn im Knigge steht auch, dass man mit vollem Mund nicht reden soll. Mahlzeit!“
Nach dem Abendessen setzte sich der Vater zu seinen Kindern im Wohnzimmer und erzählte ihnen, dass Freiherr Adolph Franz Friedrich Ludwig Knigge - Christine musste kichertn, als sie diesem langen Namen hörte - ein Schriftsteller war, der vor über zweihundert Jahren durch das Buch „Über den Umgang mit Menschen“ berühmt wurde. Darin beschrieb Knigge unter anderem, wie man mit Taktgefühl und Höflichkeit sich im Umgang mit anderen Menschen viele Enttäuschungen ersparen kann. Aus diesem Buch wurde später ein allgemeiner Ratgeber für gute Sitten gemacht, in dem Benimmregeln für alle möglichen Gelegenheiten gesammelt wurden.
„Aber das ist doch vor allem etwas für Erwachsene“, wandte Christopher ein.
„Nein”, antwortete sein Vater, „Benimmregeln gelten auch für junge Leute.”
„Auch für Schüler?“ fragte Christine.
„Gerade in der Schule und vor allem seinen Lehrerinnen und Lehrern gegenüber ist es wichtig, ein angemessenes Verhalten an den Tag zu legen. Wenn ihr wollt, gilt da eine Art Schülerknigge.”
„Und was steht da drinnen?“ fragte Christopher.
„Du weißt, dass es in der Schule nicht nur auf die guten Leistungen ankommt, sondern auch darauf, wie man mit seinen Lehrern zurechtkommt. Als ältere Menschen sollte man sie daher immer mit einem gewissen Respekt behandeln, um mit ihnen gut auszukommen.“
„Was sollte man da genau tun?“ fragte Christine.
„Man sollte nie vergessen, dass Lehrer auch ganz normale Menschen sind und manchmal einen schlechten Tag wie ihre Schüler haben. Das sollte man respektieren und auch dann höflich sein, wenn sie zum Beispiel ärgerlich oder ungerecht sind. Viele Menschen freuen sich, wenn man sie mit Namen und Titel anspricht, also ist das auch manchen Lehrern wichtig. Lehrer halten ihr eigenes Fach oft für besonders wichtig und sind gekränkt, wenn man das als Schüler nicht auch tut. Man sollte also schon aus Eigennutz ein gewisses Interesse am Unterricht zeigen, indem man aufmerksam zuhört und sich daran beteiligt.“
„Aber wenn mich Geschichte überhaupt nicht interessiert …“
„Dann solltest du das dem Lehrer so wenig wie möglich zeigen, sondern wenigstens freundlich sein und ihn als Person akzeptieren. Jeder Lehrer ist mehr als sein Fach und es schadet nicht, wenn man ihn einmal freundlich anlächelt. Glaubst du, dass es ihm Spaß macht, in lauter gelangweilte Schülergesichter zu schauen?“
Christopher schüttelte den Kopf.
„Heute hat Hannes mit seiner Plastikflasche gequietscht und Peter hat an seinem Jausenbrot geknabbert“, ergänzte Christine, „darüber hat sich Frau Schneider ziemlich aufgeregt!“
„Als Schüler sollte man Lehrer auch nie vor der ganzen Klasse kritisieren, ihnen widersprechen oder sie gar verspotten, auch wenn sie einen Fehler gemacht haben. Seine eigenen Fehler sollte man sich als Schüler auch eingestehen und nicht alles auf den Lehrer oder die Lehrerin schieben. Versetze dich doch einmal in deren Lage. Als Schüler hat man gewisse Pflichten wie Lehrer auch, daher ist es schon eine Sache der Höflichkeit, alle Arbeiten termingerecht zu erledigen und auch immer pünktlich im Unterricht zu sein.“
„Und gibt es auch einen Knigge für Lehrer?“ fragte Peter.
Alle lachten.