Es ist schon spät,“ sagte die Mutter, als sie ihren Kopf in Sebastians Zimmer steckte, „du musst morgen früh aufstehen!“
„Dieses Kapitel möchte ich noch zu Ende lesen“, bat er, „es ist gerade so spannend!“
„Na gut! Aber nur dieses eine Kapitel. Wenn du doch beim Lesen der Schulbücher auch so ausdauernd wärst,“ fügte sie noch scherzend hinzu.
Es wurden zwei Kapitel, die Sebastian las. Danach legte er das Buch seinem beim Bett sitzenden, riesigen Teddybären auf den Schoß und drehte seufzend das Licht ab. Vielleicht gelang es ihm heute von den Abenteuern Harry Potters ein wenig in seine Träume mitzunehmen.
Obwohl er müde war, konnte er nicht gleich einschlafen.
Was war das? Sebastian hörte ein Rascheln, wie wenn jemand Seiten in einem Buch umblättert. Vorsichtig blinzelnd öffnete er die Augen und sah im fahlen Schein der Straßenlaterne vor seinem Fenster, dass der Teddybär neben seinem Bett das Buch aufgeschlagen hatte und las.
Er rieb sich die Augen.
Das war gar nicht sein Teddybär, denn dieser hatte plötzlich einen dichten roten Bart und lange rote Haare. War das nicht Hagrid, der Riese und Freund Harry Potters? Noch ehe Sebastian staunen konnte, gab es ein mächtiges Rauschen und ein alter Mann mit einem langen weißen Bart schwebte im Lichtstrahl der Straßenlaterne durch das geschlossene Fenster. Seine lange Nase und die Brille mit den halbmondförmigen Gläsern wiesen ihn eindeutig als Dumbledore, den großen Zauberer, aus.„Hagrid, magst du ein Pfefferminzbonbon?“
„Erst wenn ich dieses Kapitel fertig studiert habe, schließlich will ich die Aufnahmsprüfung in den Orden des Phönix bestehen.“
"Sehr lobenswert, lieber Freund", nickte Dumbledore, und schob sich selber ein Bonbon in den Mund.
"Wenn ich diese vielen Wörter nur in meinen Kopf hineinbekäme", seufzte Hagrid.
"Lesen ist wichtig, das sage ich Harry auch immer wieder. Man muss es aber richtig angehen!"
"Und wie geht man es richtig an?"
Dumbledore nahm auf dem Bücherregal gegenüber von Sebastians Bett Platz, nachdem er ein paar Bücher mit seinem Zauberstab beiseite geschoben hatte und diese nun neben dem Regal in der Luft schwebten.
"Für die Mitglieder unseres Ordens ist es wichtig, möglichst alles über die Zauberei zu wissen", begann er mit eindringlicher Stimme zu lehren. "Das wichtigste findet man in Büchern wie jenes, das du gerade liest. Ich könnte es auswendig aufsagen, aber das ist ein Zaubertrick und das gilt nicht beim Aufnahmetest. Aber ich will dir sagen, wie du es am Besten lernen kannst."
Hagrid klappte das Buch zu und sah Dumbledore gespannt an.
"Zuerst musst du einen Überblick gewinnen, also das von mir mit eigener Hand geschriebene Vorwort und die Einleitung lesen. Auch das Inhaltsverzeichnis und alle Kapitelüberschriften solltest du erst einmal überfliegen. Das Buch in deiner Hand hat auch ein Stichwortverzeichnis ganz am Ende, in dem alle wichtigen Zauberwörter nach dem Hexenalphabet geordnet sind. Das solltest du nach bekannten Begriffen durchschauen.
Als Nächstes solltest du ein Kapitel nach dem anderen aufmerksam durchlesen und immer überlegen, welche Fragen dein Zauberlehrer zu diesem Text stellen könnte. Schreib diese Fragen auf Fragekarten, etwa solche wichtigen Fragen für jeden Hexenmeister: "Wozu braucht man Zauberkräuter?" "Was fressen Spinnen am liebsten?" Wie kann man einen Todesser besiegen?"
Beim ersten Wiederholen des Kapitels schreibst du die Antworten in Stichworten auf die Rückseite der Karten. Diese Karten trägst du immer bei dir und kannst sie auf den Pausen deiner langen Wanderungen durcharbeiten."
"Aber was mache ich, wenn ich bei einem Text nicht weiß, was wichtig ist und was nicht?" wandte Hagrid ein.
"Dann frage dich, was für dich persönlich wichtig ist und was dir in Zukunft beim Zaubern helfen kann. Denn nur das wird bei der Aufnahmsprüfung gefragt."
"Ist das beim Lernen schon alles?"
"Beinahe, denn das Anfertigen der Lernkarten ist die aufwändigste Arbeit, doch von Zeit zu Zeit solltest du die Antworten auf die Fragen laut in ganzen Sätzen zu formulieren und mit Hilfe der Antwort auf der Rückseite überprüfen. Vor allem solltest du dir immer wieder einen Gesamtüberblick über das ganze Buch zu verschaffen, ob du auch nichts vergessen hast. Fallen dir Lücken auf, musst du für diese zusätzliche Karten schreiben."
Dumbledore erhob sich bei diesen Worten vom Regal und zauberte die schwebenden Bücher wieder an ihren Platz zurück. Auch Hagrid erhob sich behäbig, wobei das dicke Buch, das er die ganze Zeit über auf seinem Schoß gelegen war, mit einem Krach zu Boden fiel.
Sebastian erschrak, fuhr in seinem Bett hoch und rieb sich erstaunt die Augen. Das Zimmer sah unverändert aus, nur das Buch lag neben seinem Bett auf dem Boden. Kopfschüttelnd hob er es auf und stellte es ins Regal zu den anderen Büchern, die Augenblicke zuvor noch in der Luft geschwebt waren.
Mit einem Blick auf seinen Wecker stellte er fest, dass es erst ein Uhr morgens war. Sebastian kletterte zurück in sein Bett und zog die Decke über den Kopf. Dieses Mal dauerte es etwas länger, bis er eingeschlafen war.